Shanghai wurde 960 das erste Mal als Dorf erwähnt – doch schon über 700 Jahre vorher wurde am Ufer des Wusong River (der auch Suzhou Creek genannt wird) zur Zeit der Drei Reiche der Jing’an Tempel erbaut (247 AD), der überlieferte Name damals: Hudu Chongyuan Tempel. Aufgrund dauernder Bedrohung durch Überschwemmung im sumpfigen Shanghai wurde der Tempel unter der Song Dynastie im Jahr 1216 an seinen heutigen Standort verlegt. Er ist neben dem Yonghe-Tempel in Peking und dem Guangxiao-Tempel in Guangzhou einer der drei wichtigsten buddhistischen Sakralbauten Chinas.1912 wurde dort die erste „Chinese Buddhist Association“ gegründet.
Wenn man sich alte Bilder des Tempels zu verschieden Zeiten anschaut, kann man sich wirklich nicht vorstellen, was einen heute erwartet.

Aufnahme von 1870-1890

Tempeltor im 20. Jahrhundert

Der Tempel vor seiner Restauration in den 90ern (das schwarz/gelbe unten links ist der Tempel). Ganz klar schon das näherrücken der Hochhäuser zu beobachten.
Heute steht der Jing’an Tempel als Relikt einer vergangenen Zeit und als Ort „des Frieden und der Ruhe“ (so die wörtliche Übersetzung) inmitten der größten Stadt Chinas, umgeben von Hochhäusern, Shops, Straßen und Autos. Ein surrealer Anblick und ein surreales Gefühl, wenn man durch das Tempeltor tritt und die hupenden Autos hinter sich lässt (oder es versucht).
Gleich am Eingang kann man sich ein kleines Bündel Räucherstäbchen (die in dem Zusammenhang besser „Gebetsstäbchen“ genannt werden sollten) kaufen und abbrennen. Die gläubigen Besucher (von denen mit mir zusammen deutlich mehr den Tempel besucht haben, als einfache Touristen!) verneigen sich dabei in alle Himmelsrichtungen und besinnen sich (insofern sie das Gehupe und Gewusel der Stadt ignorieren können).

In der Mitte des Tempelinnenhofs steht ein mehrstöckiger Schrein der munter mit Münzen beworfen wird – so soll es doch Glück bringen, wenn man in den Schrein hinein trifft oder die Münze auf einem der Dächer liegen bleibt. Ich habe getroffen!

Blick über den Innenhof auf die Halle (mit den Löwen auf dem Dach) rechts vom Eingang und die dahinter liegenden Hochhäusern.

Der Säulengang im ersten Stock (fun fact: first floor bezeichnet in China das Erdgeschoss, also faktisch ist das der zweite Stock. Real ist es das erste Stockwerk über dem Boden/Eingang) zeigt: hier ist alles neu. In den Zeiten der Kulturrevolution wurden die buddhistischen Mönche aus dem Tempel vertrieben und dieser kurzerhand in eine Plastikfabrik umgewandelt. Diese Zerstörung von Kulturgut und Architektur gipfelte in einem Abbrennen des Tempels 1972. Danach wurde der Tempel sukzessive wieder aufgebaut und wurde und wird stetig renoviert. Abgesehen von den Ausstellungsstücken und Statuen gibt es hier nichts altes mehr.
Seit 1991 ist der Tempel wieder offen für Besucher und ein buddhistischer Konvent hat sich in den Räumlichkeiten niedergelassen. Deshalb sind viele Bereiche für Touristen nicht zugänglich, wenn man aber so wie ich Glück hat und ab und an zum richtigen Zeitpunkt mal eine Tür aufgeht, kann man einen Tisch voller Mönche beim Mittagessen sehen oder eine Gruppe meditierender Mönche beim Mantras rezitieren hören. Hier wird Religion gelebt und es ist toll zu sehen, dass der Tempel eben nicht nur eine Touristenattraktion oder Geldmaschine ist.

Bester Beweis dafür, dass hier Menschen leben? Die Wäsche hängt auch hier zum Trocknen draußen…
Nun aber zu den Herzstücken für alle Buddhisten und Touristen, die Statuen des Jing’an Tempel:

Die Statue des Sakyamuni (der erste Buddha des Buddhismus) in der Jade Buddha Halle des Tempels. Diese Statue ist knapp 4 Meter hoch und 11000 kg schwer. Angefertigt aus burmesischer Jade ist diese Statue die größte sitzende Jadebuddhastatue des Landes. In Shanghais Jadebuddhatempel (den ich euch hoffentlich sehr bald vorstellen kann), liegt die Statue.

In der Guanyinhalle gegenüber findet sich diese fulminante Schnitzung der Guanyin Bodhisattva, der Göttin des Mitgefühls. Sie ist eine der meistverehrtesten Gottheiten im ostasiatischen Buddhismus und wie ihr auf dem ersten Bild erkennen könnt, werden ihr auch hier im Jing’an Tempel reichlich Opfer dargebracht! Historisch überliefert, wird Guanyin mit tausend Augen (die alles Leid auf der Welt sehen können) und tausend Armen (die überall helfen können) dargestellt, hier ist es eine beeindruckende Statue aus 5 Tonnen 1000-jährigem Kampferholz, die 2,6 Meter Durchmesser und über 6 Meter Höhe aufweist.

Das größte Herzstück des Tempels ist jedoch die Statue des Sakyamuni Buddha (s.o.) in der Mahavirahalle. Der Buddha ist aus 15 Tonnen Silber gegossen und gebettet auf einem Lotusblatt in Meditation dargestellt – und ragt dabei fast 9 Meter in die Höhe.

Jedoch ebenso beeindruckend ist die Halle an sich. Sie ist komplett aus burmesischem Teakholz gefertigt und wird durch 46 Säulen gestützt. Das ganze ergibt eine unglaublich warme Atmospähre.

Neben dem Buddha hängt noch dieses Goldstück, eine 3,3 Tonnen schwere Kupferglocke, die Hongwu Glocke, aus der Ming Dynastie. Hongwu war der Gründer besagter Dynastie und regierte das Land 1368-1398 als Kaiser.
Neben den Buddhastatuen gibt es auch noch die „Four Heavenly Kings“. Im Buddhismus wacht je einer von ihnen über eine Himmelsrichtung, als Beschützer der Welt und Kämpfer gegen das Böse. Weiterhin wird überliefert, dass jeder von ihnen eine Legion übersinnlicher Kreaturen befehligen kann, um den Dharma zu beschützen. Diese Jungs braucht man um sich!

Links steht Chí Guó Tiānwáng, der König des Ostens und der Musik. Als harmonischer und beschützender König, nur mit einer Pipa (Saiteninstrument) „bewaffnet“, benutzt er seine Waffe um andere zum buddhistischen Glauben zu führen. Seine designierte Farbe ist Weiß.
Rechts steht Zēng Zhǎng Tiānwáng, der König des Südens. Er beherrscht den Wind und führt zu gutem Wachstum. Mit seinem Schwert beschützt er den Dharma und den Süden. Seine designierte Farbe ist Blau.

Ihnen Gegenüber steht links Guăng Mù Tiānwáng, der als König des Westens „alles sieht“. Er repräsentiert den Drachen (daher die Schlange als „Waffe“), als das Auge des Himmels, sieht Ungläubige und bringt sie zum Buddhismus. Seine designierte Farbe ist Rot.
Rechts steht zu guter letzt der Chef der vier Könige, Duō Wén Tiānwáng, der Herrscher des Regen und Beschützer des Nordens. Er wird mit Pagode (gegen den Regen und als Herrschaftszeichen!) dargestellt und erinnert in der Darstellung an die altertümliche indische Gottheit des Reichtums. Seine designierten Farben sind Gelb oder Grün.

Ein weiteres Zeichen für das Aufeinandertreffen von alt und neu ist die Friedensglocke, Peace Bell. Erst 1999 gegossen, soll sie Frieden für das 21. Jahrhundert bringen. Ihr gegenüber steht eine große Trommel – 2,2 Meter im Durchmesser mit Kuhfell bezogen. Beide Türmchen waren aber abgeschlossen, daher nur das Bild von unten auf die Glocke und keines von der riesigen Trommel.

Und ein lachender Buddha darf auch in diesem Tempel nicht fehlen, allerdings nur ein kleiner in einer kleinen Nebenhalle.
Wie wichtig dieser Tempel für Shanghai ist, zeigt auch dass die Straße an der er steht – immerhin eine der bekanntesten Straßen Shanghais (die Nanjing Lu, auch wenn diese um den People’s Square ihre größte Bedeutung hat) – vor ihrer Umbenennung Jing’an Si Lu hieß, dass 1908 dort die erste Tramhaltestation Shanghais gebaut wurde (der Tempel als zentrales Herzstück der Stadt – sozusagen wie bei uns auf dem Dorf die Kirchen) und dass unser gesamtes Viertel (das ich euch ganz bald auch endlich im Detail vorstellen möchte) nach ihm benannt ist.
Der Jing’an Tempel, jeher ein Treffpunkt von Gläubigkeit, Besinnung und Kommerz (heute noch weit mehr Kommerz als früher, als es nur ein Markt war. Jetzt haben wir gleich mehrere riesige Shopping Malls rund um den Tempel), ist zehn Gehminuten von uns entfernt. Oder eine Ubahnstation. Wirklich ein absoluter Glücksfall, dass wir hier wohnen dürfen! Das ganze Viertel pulsiert und es gibt in jeder Straße so viel zu entdecken, dass wir gar nicht wissen, wo wir zuerst hingehen oder was wir zuerst probieren sollen.
Bei diesem Tempelbesuch gab es wieder nur Handybilder (mein Akkuladegerät für die Kamera kam erst am Freitag mit der Luftfracht) – aber ich wußte schon was sich nach dem ersten Besuch noch mehr bestätigt hat: dass ich den Tempel noch viele Male besuchen werde (er hatte schon beim Look and See Trip auf mich eine große Anziehungskraft, aufgrund der Surrealität der Lage und beeindruckenden Geschichte dahinter), das nächste Mal vielleicht mit Nic oder mit unseren Besuchern. Oder einfach für mich, mit der Kamera und einem Bündel Räucherstäbchen!